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Gullivers japanischer Bruder in der U-Bahn

Steffi Jüngling 
analog um die Welt
 
Reisetagebuch 06/2004 
 
 
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  1.6.2004  
 

Mein Vater weckte mich morgens auf, weil er wach und unter- nehmungslustig war. Mein Kreislauf muss früh ja erst mühsam in Gang gebracht werden und ich setzte erst mal Kaffeewasser auf. Gestern, als er ankam, war es brütend heiss gewesen, und meine Warnungen von wegen Regenzeit klangen wie Unkenrufe. Heute regnete es und es sah nicht so aus, als würde sich das im Laufe des Tages ändern.

Mein Vater blieb optimistisch, stimmte dann aber doch zu, dass wir 2 Regenschrime mit in die Stadt nahmen. Wir gingen erst mal nach Shinjuku. Allein das Treiben in diesem gigantischen Kreuzungspunkt mehrerer U- und anderer Bahnen ist beeindruckend. Wir wanderten durch die Häuserschluchten zum Metropolitan Government Building Tokyos. 12000 Menschen arbeiten dort, Tokyo hat 12 Millionen Einwohner und Japan 120 Millionen. Im Foyer wurden wir von einer älteren Dame angesprochen, die Teil einer Freiwilligengruppe ist, die kostenlose Führungen im Gebäude anbieten. Wir sagten ja und wurden durch die verschiedensten Gebäudeteile bis zum Aussichtspunkt im keine Ahnung wievielten Stock. Ich übersetzte und brachte die Dame mit der Frage meines Vaters, warum es denn so viele Obdachlose in Tokyo gäbe und was die Stadt denn dagegen tue in Verlegenheit. In dem Aussichtsstockwerk, beinahe über den Wolken zogen wir uns was trinkbares aus einem der in Japan allgegenwärtigen Automaten und setzten uns erst mal hin und gingen unserer Lieblingsbeschäftigung nach: Reden, Quatschen, Klönen...

Später fuhren wir nach Shibuya, wo wir im Starbucks über der berühmten Kreutzung einen Kaffee tranken und dann durch die Gegend streiften, bis ich mich an das Cafe Lion erinnerte... es ist eines dieser Musikcafes, in denen eine Musikanlage Altarähnlich aufgebaut ist.

Wir mussten eine halbe Stunde zwischen den Love Hotels danach suchen, und mein Vater wurde bereits etwas skeptisch, wo ich ihn denn nun hinführen würde... Der Raum ist abgedunkelt, es muffelt, wie ich es zuletzt in einem irischen Schloss erlebt hatte, in dem mit Torf geheuzt wurde und zu lauter klassischer Musik trank man Kaffee und darf NICHT reden. Schade eigentlich.

Zum Abschluss führte ich ihn dann in die Lebensmittelabteilungen mehrerer Kaufhäuser. Im untersten Stockwerk werden unvorstellbare Gaumen und Augen-Genüsse präsentiert. Mein Vater war sprachlos, und das will was heissen. Er fotografierte vor allem alle möglichen Back und Konditoreiwaren und konnte die Sorgfalt in Hygiene, Optik, Qualität usw kaum fassen.Wenn er fotografieren wollte, boten die Verkäuferinnen oft an, die Glasscheibe zu öffnen, so dass er ohne Spiegelungen fotografieren konnte...

  2.6.2004 nach oben 
 


Kamakura ist ja immer eine Reise wert, und die Dame aus dem Goverment Building uns empfohlen hatte, auch hin zu fahren wenn es regenen würde, denn gerade eben würden die Hortensien (ja, ich glaube, so heissen sie...) blühen und die sähen besonders schön aus, wenn es regnet. Dementsprechend waren alle Japaner besonders im Hasedera Tempel, als der Hortensien-Hochburg mit Kameras bewaffnet, übrigens obwohl die Sonne schien, worüber wir uns freuten, auch wenn die Hortensien bei Regen vielleicht schöner gewesen wären...

Eine Herde japanischer Schulmädelsbends bat meinen Pa und mich um Autogramme und wir kamen uns für einen Moment richtig wichtig vor. Wir grasten alle Sehenswürdigkeiten ab, tranken Cafe und dann bestand mein Vater auf einen Mac Burger, in demselben MacD, in dem ich auch mit Nib gewesen war. Bislang fotografierte er das japanische Essen in den Auslagen der Restaurants und in den Lebensmittel-abteilungen lieber, als dass er es zu sich nahm.

Zurück in Tokyo machten wir noch einen Umweg über die Österreichische Botschaft, wo eine Ausstellung eröffnet wurde und wo ich ein paar Bekannte treffen wollte. Nach einer kurzen Weile war mein Vater angeregt mit einem Japaner ins Gespräch vertieft, der Deutsch sprach, nach dem dritten Glas Wein allerdings so undeutlich, dass sich ihre Unterhaltung auf zustimmende Laute und Gesprächsfetzen beschränkte. Ihren Spass haten sie ganz offensichtlich.

  3.6.2004 nach oben 
 

Ich glaube, ich habe es in der Woche, in der mich mein Vater besuchte nur ein einziges mal geschafft, vor ihm aufzustehen. Es wurde also zur Regel, dass er mich irgendwann, nachdem er schon geduscht war und in sein Reisetagebuch geschrieben hatte bei mir anklopfte, während ich noch in anderen Welten weilte. So stelle ich mir das mit Kindern vor ...wann stehst du endlich auf...wir wollen spielen...

Heute ging es in die Gegend um Kanda, zunächst in die Electronic City, Akihabara. In einem der zahllosen Elektronik-Kaufhäuser verbrachten wir eine Weile vor den riesigen Flachbildschirmen, mein Vater vor einem, der ein Fussball Spiel zeigte und ich vor einem mit einem Startwars Movie... dann zogen wir weiter ins Bücherviertel Jinbocho und dann zu einem der ältesten Parks in Tokyo, der in der Meji Zeit angelegt worden war... von wo aus wir dann am Garten des Imperial Palace zum Tokioter Bahnhof fuhren, in einem der Lebensmittel-abteilungen noch Torte kauften und dann zu Andreas und Chihiro fuhren, wo wir zum Abendessen eingeladen waren. Wir fuhren mit der letzten Bahn nachause und fielen auf unsere Futons...


Mondbrücke

  5.6.2004 nach oben 
 

Auf der Fahrt nach Hakone spricht uns ein älterer Japaner mit großer Begeisterung an; er war nach dem Krieg in Amerika gewesen, hatte dort gearbeitet und sich ein altes Auto gekauft und hatte alle Staaten besucht. Zwischenzeitlich sprach er über den Krieg und, dass die Deutschen den Engländern ja ganz schön Angst gemacht hätten. Ja, Pearl Harbour wäre ja ein Fehler gewesen, aber die Allianz, Japan, Deutschland und Italien wäre ja schon erfolgreich gewesen... dann sprach er wieder über seine Amerikareise und holte schließlich aus seiner Tasche ein Buch, eigentlich eher ein größeres Heft, das er über seine Reiseerlebnisse geschrieben hatte, alles auf Japanisch, mit vielen sw Bildern. Er schenkte uns ein Exemplar und musste dann aussteigen. Wir hatten das Gefühl, ein kleinerer Orkan war über uns hinweggebraust und schmunzelten.

In Odawara stiegen wir aus, um uns ein Schloß anzusehen. Leider war an das Schloß ein kleiner Park angeschlossen und dort sah ich den wahrscheinlich traurigsten Elefanten der Erde; ein einsames Tier, das in einem quadratischen Stall mit Freigang auf eine Betonplattform ohne einen Baum oder ein Schattenplätzchen leben musste. Sein bernstein-farbenes Auge sass tief in seinen Schädel eingesunken und seine graue Haut sah verwittert aus, wie alter Fels; wir gingen schnell wieder und fuhren weiter. Hakone ist bekannt für seine heissen Quellen, an einem sonnigen Tag, wie diesem allerdings ist die Lust zum Baden nicht so groß, schon gar nicht in heissen Quellen, man schwimmt ja bereits in seinen Kleidern... wir sahen uns das Fujiya Hotel an, das angeblich das älteste westliche Hotel in Japans ist und es ist wirklich ein Juwel, mit Pool aus den 30er Jahren im Garten, alten Möbeln und viel Flair. Dort ein Wochenende verbringen...

Wir fuhren weiter auf halsbrecherischen Bahnrouten mit herrlicher Aussicht und auf mehr als Tuchfühlung mit den anderen Mitreisenden ...ganz Japan schien in derselben Bahn fahren zu wollen.

Schliesslich stiegen wir um in die Seilbahn und gondelten über Täler und dann ging es über einen Hügel und plötzlich war da der Fuji - ohne jede Wolke. Ein atemberaubernder Anblick und selten. Es wird gesagt, dass der Fuji ein schüchterner Berg sei, der sein Antlitz verhülle und nur etwa jeden zweiten oder dritten Tag im Jahr zu sehen sei ...und dann wolkenfrei...

Berauscht vom Anblick stiegen wir in Owakudai aus und wanderten zu den Schwefelquellen, in denen Eier gekocht werden, die sich vom Schwefel schwarz färben. Wir kauften eine Packung und verspeisten die Eier, wie alle anderen Besucher auch.



  7.6.2004 nach oben 
 

Als wolle uns das Wetter zeigen, wie gütig es mit uns gewesen war, regnete es heute, am letzten Tag von Papas Besuch in Strömen. Wir frühstückten lange und konnten uns irgendwie nicht entscheiden, das Haus zu verlassen... und so erreichte uns noch die Einladung Kondos, meiner Vermieter zum Abendessen. Die Freude meines Vaters war geteilt, denn er konnte sich mit dem japanischen Essen nicht so recht anfreunden... aber natürlich sagten wir zu und machten uns dann auf zum Mori Art Tower... bei Regenwetter ein herrlicher Ort. Wir genossen die Aussicht auf das graue Tokyo unter grauem Himmel, die Wolken zogen schnell und wir schlürften gemütlich unseren Kaffee, während die anderen Besucher an uns vorbeischlenderten. Eine Gruppe Araber, wahrscheinlich Ägypter, vermuteten wir, kam an uns vorbei und wir mussten beide augenblicklich an den 11. September denken und dass wir hier auf einem der höchsten gebäue Tokyos sassen. Nicht dass wir Angst gehabt hätten, aber es war interessant, wie schnell sich die Gedanken in diese Richtung bewegten und auch, wie bewusst man Araber wahrnimmt...

Abends gingen wir dann zu Kondos zum Abendessen. Mein Vater war skeptisch und besorgt, wegen dem auf dem Boden sitzen. Chihirom hatte es ihm so bequem wie möglich gemacht, indem sie ihm ein Bügelbrett mit Kissen ans Bücherregal gelehnt hatte, um ihm eine Lehne zu basteln...

Bei Kondos gab es aber das 'Loch' unter dem Tisch, so dass man zwar auf dem Boden, aber auf westliche Art mit baumelnden Beinen sitzen konnte. das Essen war lecker und die Unterhaltung nett, bis, ja bis ich das Buch auspackte, das ich mir ein paar tage zuvor in einem Antiquariat in Jinbocho gekauft hatte, nämlich eine Anleitung um diese Zierbälle zu machen, die Oma Kondo auch für jeden ihrer Mieter herstellt, als Abschiedsgeschenk. Bei der Haus-Party in der vergangenen Woche war ich so fasziniert und gerührt gewesen, dass ich mir den Namen der Bälle hatte aufschreiben lassen (in Kanji, also für mich unlesbar) und hatte dann den Zettel einem Antiquar gezeigt... Kondos waren überrascht und begeistert von meinem Buchkauf; zeigten uns all ihre Bälle/Kugeln und schenkten meinem Vater einen. Es war ziemlich bewegend und Oma Kondo holte gleich ihr Nähzeug, um ein kleines Kissen für die Kugel zu nähen, damit man sie schön präsentieren könne. Wir redeten viel und es war eine herzliche und ausgelassene Stimmung, ein richtiges Abschiedsfest für meinen Vater.

  8.6.2004 nach oben
 

Wir standen früh auf und zum ersten mal eher schweigsam. Jeder hing seinen Gedanken nach, während wir nach Ueno fuhren, von wo aus mein Vater zum Flughafen fahren würde. Ich hatte all mein Gepäck dabei, um weiter nach Toyota zu fahren. Es war ein seltsamer Abschied, sehr bewegend, weil wir uns so neu entdeckt hatten, aber eben auch etwas unwirklich. Europa schien weit weg zu sein.

Im Zug nach Toyota überkamen mich dann Traurigkeit. Ich musste an meine Oma denken, der es gerade nicht so gut geht und fühlte mich plötzlich alleine. Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf, Erinnerungen. Mir rannen einige Tränen über die Wangen, während die beiden Business-men zu meiner Rechten und Linken schliefen. Als ich in Toyota ankam erreichte mich der Anruf meiner Mutter, dass meine Großmutter in der vergangenen Nacht gestorben war. Plötzlich wird einem die Entfernung nach Hause bewusst, man spürt sie, jeden Kilometer; man fühlt, dass es ein Zuhause GIBT, wo man gerne sein würde, nicht nur, weil man traurig ist, sondern weil man Erinnerungen und Gedanken teilen möchte, sich mit-teilen, zuhören...

Nur gut, dass es Telefone gibt...

Mit vielen Gedanken 'im Gepäck' fuhr ich nach Obara, wo ich in den kommenden 4 Tagen Papier schöpfen wollte. Ich bezog ein geräumiges und sehr schönes Gästehaus mit Garten und schleppte meinen Futon von einem Tatamizimmer ins andere, weil ich mich nicht für einen Schlafplatz entscheiden konnte. Das grün hier in den Bergen wirkt explosiv; in der Dämmerung sieht man Gestalten im Waldfilz und in den Bergen schlafende Riesen. Am Wegrand neben der Strasse stehen Blumen, Sake und eine gerauchte Zigarette für einen, der bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.

  9.6.2004 nach oben
 

Die Sonne scheint, beim Papierschöpfen ein wichtiger Umstand, um die Blätter zu trocknen. In der Mittagspause sitze ich auf einer Bank neben dem Museum und während ich meine Onigiri (Reisbällchen in Algenpapier) verspeise, umschwirrt mich ein Schmetterling.


Feierabend

  13.6.2004 nach oben
 

Zurück aus der Washi-Welt; nachdem ich gestern erst mal einen Tag am Computer verbracht, gab es leckere Giosa im Restaurant von Yukies Schwager. Wir waren zu viert und schlemmten wie die die Götter im Giosa-Himmel. Vor der Gaststube in der wir assen trohnte eine riesiger weisser Kater mit blauen Augen, der uns mürrisch anmaunzte und Streicheleinheiten einforderte. Yukie und ich tauschten Geschichten über Katzengeburten aus (wir beide hatten Katzen, die wollten, dass wir bei der Geburt der Katzenbabies anwesend waren...).

Heute war Piknik im Park angesagt und wir trafen uns vor einem Conbinie, bepackt mit internationalen Leckereien. Wir waren eine lustige Mischung an Leuten und suchten uns ein schattiges Plätzchen, um nicht in der Sonne gegart zu werde. Und das nennt man dann Regenzeit.

  14.6.2004 nach oben
 

Um meinem Computertag einen angenehmen Abschluß zu geben hatte ich mich mit Kanai-san, einem Kurator im Museum von Toyota verabredet. Wir wollten uns auf einen Kaffee treffen und ich sollte ihn anrufen, wenn ich in Toyota bin, so um 5. Ja und natürlich hatte ich Schussel seine Telefonnummer nicht mit dabei. Also rief ich gemeinsame Freunde an, konnte aber niemanden erreichen, sandte ihm aber noch eine Email... und ging schließlich alleine zu Rafu, in mein Lieblingscafe in Toyota. Dort bat ich um Hilfe und ein Telefonbuch (das ich ja alleine nicht lesen kann, da die Namen ja als Kanji geschrieben werden...). Schließlich versuchte mir das ganze Cafe zu helfen. Eine alte Dame holte von zuhause (das wohl gleich nebenan lag) ein Telefonbuch, da Rafu nur die gelben Seiten im Cafe hatte... aber alles war vergeblich, denn Kanai stand nicht im Telefonbuch.

Also gut, ich bestellte mir auf den Frust hin eine Eisschokolade und dann rief mich Kanai-san an, der eben meine Mails gecheckt hatte und kam. Er wurde zu seiner Verwunderung vom ganzen Cafe begrüßt...

  18.6.2004 nach oben
 

Eigentlich weiss man's ja. Das deutsche Kino ist immer für eine Enttäuschung gut, auch wenn die Filme im Rahmen eines deutschen Filmfestivals im Goethe Institut Tokyo gezeigt werden... 'Schußangst' war für heute angesagt und ich machte den Fehler, hinzugehen. Mannomann. Kann jemand diesen jungen deutschen Filmemachern Bescheid geben, dass man auch Filme über einen anderen Lebensabschnitt als die Pubertät machen kann. Und ich kann ja nur hoffen, dass die Jugendlichen in Deutschland besser drauf sind, als sie im Kino dargestellt werden. Ok, es ging wieder mal um einen Zivi(gähn), der alleine lebt, seinen Job macht und dann ne Braut kennenlernt, die auch nicht so ganz dicht ist. Sie haben nicht mal Sex, nur seltsamste Begenungen. Die Dialoge sind auch zum Weghören (zu allem Überfluß gibt es auch noch einen Roman zu der Geschichte... also Altpapier kann man sicher auch anders produzieren). So und dann findet der Zivi heraus, dass sie was mit ihrem Stiefvater hat; zumindest haben sie Sex, das hat er beobachtet. Also will der junge Mann den Stiefvater umbringen, der dann aber doch lieber an einem Herzinfarkt stirbt. Die Braut will aber trotzdem nix mehr von ihm wissen und die Schussangst, die sich eher auf seinen Schnüdel bezieht überwindet er dann mit einem Gewehr (soooo ein Rohr) und erschießt sie. Ja und dann ist der Film auch endlich aus. Warum tut man sich sowas an, ich meine als zahlender Betrachter?

Also ich geh nur noch in deutsche Filme, in denen es sich wenigstens um bescheuerte Erwachsene dreht... hab ich mir geschworen.

  20.6.2004 nach oben
 

Ich war für heute zu einer Okinawa- Party in dem Kunstraum rice verabredet und stellte wieder mal fest, wie klein Tokio ist, denn ich sass plötzlich neben Roger, dem Kurator von dem Symposium vor einem Monat... so geht es mir in Tokio ständig (von wegen Anonymität in der Großstadt!), man trifft sich immer wieder, verliert sich kaum aus den Augen.

Es gab Spezialitäten und Musik aus Okinawa... und ich glaube, das letzte mal für eine ganze Weile Alkohol für mich. Am nächsten Tag war ich nämlich platt wie ne Natter, bei der drückenden Hitze hat man zwei Tage Kopfschmerzen, wie ich feststellen musste... also von nun an Selters statt Sekt!

  21.6.2004 nach oben
 

Heute Nacht um 2.30 habe ich den Roman (A suitable boy von Vikram Seth), den ich gerade lese auf Seite 1410 vorzeitig aufgegeben, obwohl nur noch ca. 80Seiten zum offiziellen Ende gefehlt haben. Also, da begleitet man eine junge Inderin lesenderweise durch alle möglichen Wirdrigkeiten und vorbei an den Männern, mit denen ihre Ma sie verkuppeln will und entscheidet sich dann doch für so einen Streber, der einen ja schon beim über-ihn-lesen langweilt. Das macht doch keinen Spass so und deswegen brachte ich das Buch auch heute gleich ins Antiquariat (aus meinen Augen!) und holte mir als Gegengift den letzten Band Harry Potter und ein Buch über die Teezeremonie.

Und abends gab ich dem deutschen Film noch mal eine Chance, allerdings nur als DVD- und zuhause: 'DIe Stille nach dem Schuß'. Und es ging nicht um die Ladehemmung bei Teenies... sondern um die RAF und eine Terroristin, die aus und quasi in die DDR einsteigt. Super Film. In jeder Hinsicht.

  22.6.2004 nach oben
 

Um meinen Kopf vor der Sonne zu schützen habe ich mir heute einen Sonnenhut zugelegt. Ein Sonnenhut ist in Japan ein Kleidungsstück, das eigentlich nur durch einen tragbaren Sonnenschirm, also eine meist farbenfrohere Variante des Regenschirms ersetzt werden kann. Ich passe mich an. Nachdem ich mir in der anfänglichen Euphorie einen sündhaft teuren gelbgrünen Hut, der aussah wie zwei Salatblätter gekauft hätte, entschied ich mich dann doch für eine günstigeres Exemplar, mit dem ich ein bißchen aussehe, wie 'out of Africa', obwohl die Rolle der Ausländerin in Japan vielleicht eher 'out of Rosenheim' entspricht. Mein Kopf ist auf jeden Fall jetzt vor der Sonneneinstrahlung geschützt.

Und dann reihe ich mich auch gerade in das kleine tapfere Heer der Fahrradfahrer auf Tokios Straßen ein. Das heisst, die Radler fahren in Tokio auf den Gehsteigen und 'fahren' ist auch nicht die richtige Bezeichnung, denn eigentlich eiern die Fahrradfahrer zwischen den Fußgängern und beide Parteien fühlen sich bisweilen wie in einem Slalom-Parcours. Viele der Fahrradfahrer halten übrigens bei Sonne einen Sonnenschirm und bei Regen ihren Regenaschirm in der einen Hand.

Vor meiner Schuhschachtel, unter meinem Fenster zwischen den Häusern wohnt eine Katzenfamilie, eine alleinerziehenden Katzenmutter mit ihren drei Sprößlingen. Sie begrüßen sich immer mit viel Gemaunze... und tagsüber tun sie, was man im japanischen Sommer für alle einführen sollte: sie halten Siesta.

Ich weiss nicht, ob ich bereits über die Convinient Stores, kurz Conbinies genannt berichtet habe, die man fast an jeder Strassenecke finden kann; sie versorgen den Menschen mit allem, was man zum Leben braucht: Grundnahrungsmittel, Filme, Spiel- und Schreibzeug, die neuesten DVDs, Zeitschriften, Süßigkeiten, warme und kalte Snacks, und dann kann man Farb- und sw- Kopien machen, Geld abheben und seine Strom, Gas, Wasser, Elektrizitäts- und Telefonrechnungen dort bezahlen. Als ich im Gästehaus der Uni in Toyota wohnte war der Conbinie in 15 Geh-Minuten vom Campus der einzige Laden im Umkreis. Und nach kürzester Zeit war ich gänzlich 'made by convinient store'.

  24.6.2004 nach oben
 


sogar die Gläser schwitzen hier mehr als in Europa

Heute war ich wieder mal mit Katrin zu einer ausgiebigen Talk Session über das Leben Kunst und die Wlet verabredet und abends trafen wir uns mit Chihiro auf einen Kaffee. Wir saßen draussen im lauen Abend, der etwas Abkühlung brachte nach einem drückend heissen und schwülen Tag. Für Unterhaltung sorgten die Küchenschaben, die abends, wenn der Strom an Menschen auf den Strassen abnimmt aus ihren Löchern kriechen.

Wir saßen etwas erhöht auf einem Podest vor dem Cafe, während viele andere auf den Mauern auf dem Weg zur U-Bahn saßen. Wir konnten die großen schwarzen Kleckse sehen, die sich langsam aus dem Gestrüpp über die Mauer kletterten und sich an die Menschen annäherten, wobei diese dann mit kleinen spitzen Schreien die Flucht antraten. Wohlgemerkt die Menschen traten nach und nach die Flucht an und überliessen das Feld den Kakerlaken...

  25.6.2004 nach oben
 

Heute war ich endlich zum lange geplanten Nakano-strive mit Carl, einem amerikanischen Sound-Artist verabredet. Er wohnt auch in Nakano und hatte angegeben, dass er die besten Nudelbars und Cafes der Gegend kenne. Zunächst schlürften wir kalte Nudeln und dann besuchten wir ein Cafe mit dem verheissungsvollen Namen 'Klassik'. Man tritt von einer kaum interessanten Gasse in eine andere Welt und ich war gleich an Harry Potters Besuche in Hogsmeade erinnert. Wahrscheinlich wurde das Cafe in den 50er Jahren eingerichtet, aber es sieht innen so windschief und heruntergekommen aus, dass man ihm glatt gute 40 Jahre mehr anrechnen könnte. Es lief laute klassische Musik und ich staunte mit offenem Mund. Der Kaffee schmeckte schlecht, dafür leistete uns eine Katzenfamilie Gesellschaft in dem überraschenden Ambiente. Wieder ans Tageslicht Tokios getaucht gingen wir noch in ein anderes Cafe, das aber im Vergleich ein normales, kleines, nettes Cafe ist, international eingerichtet und ein Ort, an dem man sich gut verabreden kann.

Wir verabschiedeten uns und ich fuhr nach Nippori zum Stoffmarkt, wo ich mich mit Elba traf und wir gemeinsam nach Stoffen für eine Freundin suchten... ja und da stellte ich fest, dass mein Kalender weg ist. Verschwunden. Mein tragbares Gehirn, mein Notitzbuch für alle Fälle und Eventualitäten des Lebens. WEG.

Prima. Ich beschloß erst mal in meiner Unordnung zuhause zu wühlen, bevor ich mich ärgern würde, aber in den kommenden Tagen zeigte sich, dass mein tragbares Gedächtnis wirklich verschwunden war.

  27.6.2004 nach oben
 

Ich hatte ja immer mal wieder Freunde nach Flohmärkten in Tokio gefragt, aber ohne großen Erfolg. Elba kannte allerdings einige und heute trafen wir uns in Harajuku, um auf Schnäppchenjagd zu gehen. Der Flohmarkt fand in einer Seitengasse um einen Schrein statt und war eher ein Antikmarkt, das heisst, es gab viele Kimonos zu kaufen, altes Porzellan, Kleinkram etc. aber eben nicht immer billig. Die meisten potentiellen Kunden waren Ausländer, da Japaner generell lieber Neuware kaufen; ich erstand eine Kokeshi-Puppe, die ich mir eigentlich bereits in Yamagata kaufen wollte. Daneben gab es alte Tusche-Reibesteine, Stoffe, Bilder, ein zerlegter Motor zu sehen...

Später gingen wir ins Kino und sahen uns KOKORO an, eine Romanverfilmung aus den 50er Jahren. Natürlich ging es um die Liebe, was sonst und natürlich gab es Schwierigkeiten, aber welche. Zwei Studenten verlieben sich in die Tochter der Wirtin; der eine vertraut sich seinem Freund an und der sagt nicht, was Sache ist, sondern hält am selben Abend um die Hand der Tochter an. So, da ist der andere Baff, aber da er Philosophie studiert und eh schwermütig ist bringt er sich kurzerhand um. Nur der Freund weiss, dass dies hauptsächlich aus Liebeskummer geschieht und er nicht ganz unbeteiligt ist am Unglück des Freundes... Er heiratet die Tochter, kann sein Glück aber nicht geniessen, denkt immer an seinen Freund und den Verrat, den er begangen hatte... und macht sich selbst und seiner Frau das Leben schwer. Darüber geredet wird natürlich nicht, man kann sie die Stimmung in ihrem Haus ja vorstellen... und dann ist der Film auch noch schwarz-weiss!

Hinterher gingen wir mit einer Gruppe, die hauptsächlich aus Ausländern bestand Kaffee trinken und der einzige Japaner unter uns meinte zu dem Film, dass in Japan traditionell nicht viel geredet würde-wurde... und dass man von seinem Partner (also ins besondere der Mann von seiner Frau) erwarte, dass er=sie ihm die Wünsche von den Augen ablese, Bescheid wisse, was der andere gerade bräuchte oder wünschte. OHNE WORTE. Wenn es ums Essen oder Trinken geht, ist das ja ok, aber bei komplizierten Seelenzuständen sicher kein ganz einfaches Umfangen...

  28.6.2004 nach oben
 

Elba ging heute zu einer Teezeremonie in einem Stadtteilzentrum und hatte mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, mit zu kommen- ich war sofort dabei. 'chanoyou' ist die japanische Bezeichnung der Teezeremonie... In einer Art Rathaus für einen Stadtteil, einem eher häßlichen Gebäude gibt es ein größeres Tatamizimmer, in dem wir die Teezeremonie abhalten würden.

Wir waren vier Japanerinnen, drei Auslännderinnern und unser Sensei, die Teemeisterin. Sie war eine ältere Dame, die einen sehr schönen Kimono trug und wunderbar weichen Wangen hatte; sie lächelte die ganze Zeit. Wir Ausländerinnen machten natürlich fast alles falsch; die Teezeremonie ist ein stark ritualisierter und in jederm einzelnen Handgriff festgelegter Ablauf von Begrüßung, Bewunderung der Geräte, Reichung von Süßigkeiten, Essen, Zubereitung des Tees, Trinken, Bewunderung der Teeschale usw. Was sehr zwanghaft klingt ist eigentlich eine strukturierte Begegnung. Man feiert den Moment, der Zusammenkunft, man tut etwas gemeinsam, also Essen, Trinken und Betrachten. Die Athmosphäre war keineswegs steif, sondern eher freundlich; wir tun das gemeinsam und versuchen uns den Regeln entsprechend zu verhalten. Dabei muss keine Konversation betrieben werden; es wird einem vorgegebenen Muster gefolgt. Das hat etwas sehr beruhigendes; man betrachtet, geniesst, die Aufmerksamkeit wird gelenkt und man folgt. Ich war beeindruckt. Als wir fertig waren, meinte Elba, dies sei nur die Pause, wir würden jetzt in das richtige Teehaus gehen... und so war es.

Im Innenhof des Gebäudes stand ein kleines Teehaus aus Lehm, umgeben von Bambus. Davor ein kleines Wasserbecken, das von einem Bambusrohr gespeist wurde. Wir wuschen uns Hände und Mund und stiegen durch eine kleine niedrige Öffnung in den Teeraum, der übrigens etwa so groß war wie meine Schuhschachtel. Das Tatamizimmer ist nicht möbliert, in einer Ecke stehen die Teewerkzeuge, ein Metallbecken in dem echte Kohlen glühten und über dem das Wasser für den Tee zubereitet wurde. Eine lackierte Teedose, ein Teelöffel, eine Bambus -Schöpfkelle, ein Keramikgefäß für das Wasser... In einer Nische des Raumes, den ich immer als Herrgottswinkel bezeichne, stand eine Dose für Incense, in einer hängenden Vase waren Blumen arrangiert und im Zentrum des Winkels hing eine Rolle mit Kalligrafie. Der Ablauf war derselbe wie vorher, aber der kleine intime Raum schaffte eine andere Athmosphäre. Ausserdem war der Raum nicht klimatisiert und um das Teehaus surrten die Klimaanlagen und heizten den Innenhof wohl zusätzlich auf. Unsere lächelnde Teemeisterin sagte, dass das Rauschen der Klimaanlagen sie an einen Wasserfall erinnern würde und so lauschten wir alle einen Moment andächtig... Es gab eine andere Süssigkeit als vorher, ein exquistites Stückchen, das zart lila scheinte, aussen war es wohl eine Art Mochi, gestampfter Reis und innen irgend etwas mit Eigelb. Augenweide und Mundschmaus. Es gab andere Teeschalen und wieder den leckeren grünen Pudertee, den man in drei Schlucken trinkt.

Bei der Verabschiedung bot eine der Japanerinnen, die in einen sehr schönen Kimono gkleidet war an, beim nächsten mal für uns Kimonos mit zu bringen, so dass wir alle im Kimono an der Teezeremonie teilnehmen könnten. Abgemacht.

   
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  ©2004 Steffi Jüngling