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underground
Steffi Jüngling 
analog um die Welt
 
Reisetagebuch 01/2004 
 
 
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  1.1.2004  
 

Das neue Jahr habe ich mit Chihiro, Andreas und Chihiros Großeltern begonnen. Chihiro hatte mich am Abend zuvor eingeladen, mit der Bemerkung, dass das Fest bei den Großeltern nichts besonderes sei, man esse gemeinsam, die Großeltern würden dabei eine Art japanisches Schlagerfestival ansehen und nachts ginge man gemeinsam zum Schrein, also das klang für mich sehr gemütlich und verlockend und ich sagte zu.

Das Essen, Sashimi-roher Fisch mit Reis war phantastisch. Der japanische Schlager war faszinierend, besonders da die Frauen herrliche Kimonos trugen. Das Programm wurde allerdings vom Großvater immer wieder mit Wrestling unterbrochen, was einen sehr interessanten Kontrast ergab.
Wir tranken leckeren Sake und nach 12 gingen wir zum Schrein, wo schon eine lange Schlange anstand, um sich den Segen fürs kommende Jahr zu sichern. Feuer brannte dort, ein paar Männer spielten Musik, Trommelten und Flöte und ein als Drache verkleideter Mann tanzte um die Anstehenden. Er kam auch zu mir und versuchte immer, meinen Kopf zu erreichen (für einen japanischen Mann nicht immer einfach, ich komme mir da manchmal vor wie eine Art menschlicher Eiffelturm) und so tätschelte ich den Drachenkopf ein wenig begütigend. Als der Drachen vorbeigezogen war, meinte Chihiro, dass ich dem Drachen meinen Kopf ins Maul hätte stecken müssen, das würde Glück bringen. Also, diese Chance hatte ich verpasst...

Am ersten Januar wird in Japan Osechi gegessen, das ist leckerstes Essen, etwa als kalte japanische Antipasti zu bezeichnen. Die Osechi werden im alten Jahr vorbereitet (der Gedanke dabei ist, dass man in den ersten Tagen des neuen Jahres nicht kochen muss und so das neue jahr in aller Ruhe begrüßen und angehen kann) und in Lackschachteln aufbewahrt, bzw. eher äußerst ästhetisch präsentiert. Man findet darin so leckere Sachen, wie in schwarzem Tee gegartes Schweinefleisch, kunstvoll gerollte Omeletts, Riesengarnelen, Shiitakepilze, Lotuswurzeln, und viele andere Köstlichkeiten, deren Namen ich leider vergessen habe.

  2.1.2004 nach oben 
 

An zwei Tagen des Jahres öffnet der Tenno, der japanische Kaiser seinen Palastgarten und empfängt das Volk, um ihm zuzuwinken, sowie bewunken zu werden, und der 2.Januar ist neben dem 23.12. (seinem Geburtstag) Winkzeit und das wollte ich natürlich nicht verpassen.

Am Palasteingang werden die späteren Winker von einer gut durchorganisierten Wachmannschaft in Empfang genommen. Alles ist abgesperrt, man wird sanft geleitet, in Bahnen gelenkt und vor den Balkon geführt, wo man sich erst mal die Beine in den Bauch steht. Als ich schon glaubte, dass gar nichts mehr passieren würde, kam plötzlich Bewegung in die Menge und dann trat die ganze Kaiserfamilie auf den (durch Panzerglas geschützten) Balkon, alle "Gäste" hoben die weissen Papierfähnchen mit der roten Sonne und winkten mit ihren Papierfähnchen, was ein faszinierendes flatterndes Geräusch verursachte, ein bischen, wie eine Schar auffliegender Tauben und die kaiserliche Familie stand auf dem Balkon, zeigte die sauberen Zähne und winkte zurück. Zwischenzeitlich gab es eine kleine Ansprache, alles mit viel Winke! Winke! von beiden Seiten und dann verschwand die kaiserliche Familie wieder im Gebäude und das gemeine Volk schob sich dem Ausgang entgegen.

Abends wurde ich noch mal mit Osechi verwöhnt, diesmal bei James und Maki, begleitet von heißem Kartoffelschnaps, bis die halbe Gesellschaft wieder in aller Eile Richtung Subway rannte, um die letzte Bahn noch zu erwischen, die auch in Tokyo zwischen 12 und 1 Uhr nachts fährt...

  5.1.2004  nach oben 
 


Tsukiji fish-market

Um 5.15 Uhr klingelte mein Wecker und ich machte mich noch schlaftrunken auf zum Fischmarkt in Tokyo. In den U-Bahngängen sitzen und liegen noch viele Obdachlose, die dort geschlafen haben...wenn man nachts die letzten Bahnen nimmt, sieht man, wie sie ihre Nachtlager, meist bestehend aus ein paar Pappen aufschlagen.

Der Fischmarkt ist einer der größten seiner Art und der Besucher taucht wirklich in eine andere Welt ein. Es herrscht geschäftiges Treiben, so um 6 Uhr morgens sind die großen Auktionen bereits abgeschlossen und man schiebt sich durch die kleinen Gänge mit den verschiedenen Ständen.
Hier kann man wirklich von Meeresfrüchten reden und was es nicht alles zu sehen gibt... Muschelherzen, Aale in allen Größen, Hummer und Krebse, riesige Tunfische, die tiefgefroren mit der Bandsäge geschnitten werden, lebende Fische, die noch geschlachtet werden, getrocknete Fische in allen Größen, Tintenfische, Sepia, Krakenarme...eine unglaubliche Fülle und Vielfalt.

Sprachlos und benommen tritt man in den jungen Tag und dann gab es zur Stärkung Sushi und Sake, ein guter Start in den Tag und in die Woche.

  6.1.2004 nach oben 
 


SHOPPING

Japan ist sicher ein Einkaufsparadies. Die Kette "3 minutes happiness" wirbt mit folgendem Slogan: "just 3 minutes/enjoy shopping/ a happy feeling".

Eine japanische Bekannte meinte, die Japanerinnen würden so gerne einkaufen, weil sie so wenig Urlaub hätten und somit Shopping die japanische Freizeitbeschäftigung Nummer eins sei. Mode ist besonders in Tokyo eine Art Individualitätsnachweis; die meisten Frauen sind wirklich gut und geschmackvoll gekleidet, die jüngeren oft exzentrisch. Indem aber ALLE Frauen so gut oder auffallend gekleidet, sind, kann man natürlich auch hier von einer Art Herdentrieb reden. Folgender Witz wurde mir in dem Zusammenhang erzählt:

Ein Schiff mit Briten Deutschen und Japanern sinkt. Um die Passagiere zum Verlassen des Schiffes zu bewegen befiehlt der Kapitän den Deutschen: "AUSSTEIGEN!", zu den Briten sagt er: "Gentlemen, bitte verlassen Sie das Schiff." und zu den Japanern sagt er: "Sehen Sie, alle gehen von Bord..."

  7.1.2004 nach oben 
 

Heute habe ich mein Wohnzimmer in Tokyo gefunden.
Und das zwei Tage bevor ich weiter nach Toyota reise. Bereits bei meinem ersten Aufenthalt in Asakusa, Tokyo hatte ich das ef-Cafe mit Gallerie besucht (nachdem ich es zwei Tage lang gesucht hatte, das es in meinem Reiseführer falsch eingezeichnet war...).

Es ist ein sehr offenes, warmes Cafe und hinter dem Cafe befindet sich ein altes Speicherhaus, das das große Tokyoter Erdbeben 1923 und den 2.Weltkrieg überlebt hatte. In diesem sehr stimmungsvollen Raum ohne Fenster und mit traditionell schwarz lackiertem Holzboden finden Ausstellungen statt; ich hatte mich sofort in den Raum verliebt und wollte mit den Organisatoren über eine Ausstellungsmöglichkeit reden. Also bin ich zunächst hingegangen, um einen Kaffee zu trinken und um einen Termin auszumachen. Der Termin war für 18Uhr vereinbahrt und ich blieb bis nachts um 11. Ich glaube, das sagt alles, besonders, wenn man bedenkt, dass ich meine Badesachen im Gepäck hatte und eigentlich auf "Arbeistgespräch" und danach Onsen eingestellt war. Grundsteine wurden gelegt, mehr für Freundschaft als für Kunst.

  9.1.2004 nach oben 
 

Vor knapp einem Monat war ich nach Toyota gefahren, um Prof Kohmura zu treffen und alles für meine Arbeit als Researcherin vorzubereiten, heute fahre ich mit Sack und Pack nach Toyota, um hier an meinen Projekten zu arbeiten, aber davor gibt es eine viereinhalbstündige Busfahrt, auf die ich mich freue, denn ich bin gerade mitten in dem lästigen 4. Harry Potter Band, der mich voll in seinen Bann gezogen hat...

Gut versorgt mit allerlei Keksen begebe ich mich eher nach Hogwarts als nach Toyota, nur der Blick über den Buchrand, der mir während einem Großteil der Fahrt freie Sicht auf den schneebedeckten Mount Fuji beschert, holt mich in Intervallen wieder in die Welt, bzw. nach Japan zurück.

Und dann bin ich da, werde abgeholt von Izumi, und abgeladen in der Uni, wo gerade die Prüfungen in vollem Gange sind...und spät nachts komme ich im Haus der Familie Miyata an, die mich für den ersten Monat aufgenommen hat. Nach einem japanischen Bad lege ich mich auf den Futon in meinem Tatamizimmer und lese erst mal meine Post...

  10.1.2004 nach oben 
 

Als ich aufwache komme ich mir vor wie im Traum, denn das Haus der Familie Miyata steht am Waldrand und ich komme mir vor wie in einem Baumhaus, alles hell und freundlich (aber wie die meisten japanischen Häuser für westliches Empfinden eher kalt).

Mit der Tochter Kokoro kann ich Kanji lernen, sie lernt sie auch gerade in der Schule und mit Yoshiro-san werde ich in den nächsten Wochen mit dem Rad zur Uni fahren, 30 Min einfache Fahrt und es gibt keinen Bus, auf den ich ausweichen könnte. Dabei werde ich hoffentlich einen Teil des in Japan erworbenen Hüftgolds wieder abstrampeln können...

  11.1.2004 nach oben 
 

Nachdem ich jetzt mehrere Mails bekommen habe, in denen ich nach den Schattenseiten meines Aufenthaltes und meiner Zeit hier befragt wurde, da mein Tagebuch einfach zu positiv sei, versuche ich jetzt mal vom Schatten zu schreiben.

Da ist zuallererst mal mein Japanisch zu nennen, das wirklich grotten-schlecht ist. Als ich neulich eine Mail auf Italienisch geschrieben habe, ist das wenige Italienisch gesprudelt, mein Japanisch kommt dagegen nur tröpfchenweise und meistens spreche ich Englisch. Das Problem ist, dass einfach nichts mehr in meinen Kopf reinzupassen scheint. Proppenvoll ist er und jedes neue Wort muss mir zehnmal gesagt werden und wenn ich es nicht aufschreibe und mal gesehen habe, dann gibt es keine Chance, es einzuprägen. Eine Abhilfe bietet vielleicht die Tatsache, dass ich Probleme habe, Final Cut auf meinem Computer zu installieren...was im Klartext heisst, dass ich wahrscheinlich an den Computern in der Uni arbeiten muss, auf Japanisch....

Ausserdem fühle ich mich des öfteren eh wie verkatert nach durchzechten Nächten, bloß: ohne auch nur einen Tropfen Alkohol GESEHEN zu haben.

Ich bin einigermassen übermenscht und übereindruckt, so könnte man das bezeichnen. Alles in allem sehne ich mich gerade nach eigenen 4 Wänden (obwohl es mir bei den Miyatas sehr gut gefällt und ich mich hier verwöhnt fühle...), aber es wird doch eben Zeit, dass ich an einem Ort ankomme, an dem ich mich zurückziehen kann, zuhause bin, wo ich besucht werden kann und wo ich auch die Decke über den Kopf ziehen, kann, wenn ich keinen Bock zum Aufstehen habe.

Im letzten Jahr war ich längstens drei Monate an einem Ort, ziemlich aufregend war das, aber auch ein wenig ermüdend, also jetzt steht was anderes an und gleichzeitig gewöhnt man sich natürlich an das in Bewegung sein und es fällt mir nicht ganz so leicht, mich auf einen Ort als Bleibe einzulassen.

Heimweh habe ich nicht, eher eine Sehnsucht, Sehnsucht nach bestimmten Menschen, die ich mir herbeamen möchte, auf einen Kaffee, eine Wanderung, ein Bier, ins Kino undsoweiter, ja, und dann ist da noch eine andere Sehnsucht, einerseits nach London (vielleicht weniger als Stadt als nach dem London meines Masterstudiums, mit all den Leuten und dem Diskutieren und meiner ständigen Suche nach neuen Cafes...obwohl ich das jetzt ja auch in Nagoya in Angriff nehmen kann) und die andere Sehnsucht führt meine Gedanken immer wieder nach Venedig. Dann streune ich imaginär durch die Gassen, trinke hier einen Spritz und dort einen Cappuchino und treffe dabei auf bekannte Gesichter.

Ja, wie man sieht, es geht mir eigentlich sehr gut, insbesondere jetzt, wo ich mit meinen Projekten anfangen kann und das Videomaterial von der Reise sichte und bearbeite. Also kein richtiger Schatten - ausser, dass ich mich auch ein bischen nach Tokyo wünsche, wo's mir ziemlich gut gefallen hat und manchmal frage ich mich, ob ich da nicht sogar besser aufgehoben wäre...aber vielleicht gehört das auch mehr zu meinen ständigen Gelüsten, neben dem hier auch noch woanders zu sein...und darf nicht weiter ernst genommen werden...

  14.1.2004 nach oben 
 

Mit 15 Jahren habe ich festgestellt, dass Fahrradfahren meins nicht ist. Man muss vorsichtig sein mit vergessenen Abneigungen und sollte sie auf jeden Fall ernst nehmen und sich erinnern.

Als mir angeboten wurde, bei der Familie eines Profs zu wohnen in den ersten Wochen meiner Zeit in Toyota, während ich eine eigene Bude suche, nahm ich begeistert an und die Aussicht, jeden Tag mit dem Rad zur Uni zu fahren erschien verlockend, gilt es doch einige bulgarischen, russische und japanische Kilos loszuwerden - ABER. Ja, aber da wusste ich noch nicht, dass die tägliche Radtour 35 Minuten einfach beträgt und sozusagen über Stock und Stein führt.

Als ich mir mit 15 eine Radtour mit einer Freundin durch Australien ausmalte, kurierte mich mein Vater auf einer Radtour von Haßfurt nach Bamberg (25km), nach denen ich nie mehr darüber nachdachte, mit dem Rad weiter als ins nächste Kino, zum nächsten Bier oder See zu fahren und für Australien wählte ich dann Jahre später auch eher ein motorisiertes Zweirad...

Ok, jetzt komme ich jeden Tag in der Uni an und habe das Gefühl, dass ich eigentlich schon genug für den Tag getan habe...aber der Körper gewöhnt sich ja immer schneller als gedacht an alles mögliche und nach mehreren langen Tagen in der Uni-Heitzungsluft tun Bewegung und frische Luft zugegebenermassen gut. Nur leider habe ich hier in den Convenient-Stores noch keinen Deo entdeckt - vielleicht schwitzen Japaner einfach nicht?

  16.1.2004 nach oben 
 


old mother earth

Die Reise beginnt von neuem. Meine Videoaufzeichnungen von der Reise durch Russland entführen mich zurück auf die Reise. Ich bin ganz froh, dass ich vorher versucht hatte, die Reise noch mal in Gedanken zu begehen und zu beschreiben, jetzt werden die inneren Bilder mit Film und Ton unterlegt. Die Erinnerungsschubladen werden geöffnet...und ich bin ziemlich aufgeregt, wie die Arbeit sich entwickeln wird.

  18.1.2004 nach oben 
 

Heute stand die erste Stunde meines Sprachkurses auf dem Plan und ich war gespannt... Wir sind 15 Leute und die Kaukasier sind deutlich unterrepräsentiert mit drei Personen, ausser mir einer Amerikanerin und einem Iren. Die anderen Teilnehmer kommen aus Nepal, der Mongolei, Indonesien, China, Korea, und Kolumbien. Und in dem Sprachheft mit dem Vokabular stehen die Vokabeln auf Spanisch, Portugisisch und danach erst auf Englisch...Spanisch und Portugisisch, wegen der vielen Japaner, die nach dem 2. Weltkrieg erst nach Südamerika ausgewandert sind und in den letzten Jahrezehnten wieder zurückkommen.

Beim Sprachkurs wurden dann mehr Defizite als Können für mich aufgedeckt und ich lerne jetzt so Sachen wie, "der Bleistift ist lang" und "der Koffer schwer zu sagen".

  20.1.2004 nach oben 
 

Kaum schreibt man, dass es einem gut geht, verändert sich die Lage.
Ich wollte mir heute Apartments in Nagoya ansehen und hatte dafür einen Termin mit einem Makler vereinbart. Ich ging davon aus, dass ich was passendes finden würde und stand frohen Mutes auf.

Als wir mit dem Auto nach Nagoya fahren wollten, waren die Scheiben beschlagen und ich wollte meine Gasteltern schon fragen, ob ich kratzen sollte, als Izumi-san mit dem Wasserkessel aus der Küche kam. Ich dachte noch: was gibt denn das und dann schüttete sie das heisse Wasser auf die Scheibe und-sie war frei. Aha, so machen die Japaner das.

In der Stadt traf ich dann Will, den amerikanischen Makler und wir fuhren zur ersten Wohnung, die superzentral in der Stadt liegt, aber in einem eher hässlichen Hochhaus in einer eher häßlichen Gegend. Ein Zimmer mit Balkon, alles in einem 70er Jahre- dunkelbraun, also dunkel der Holzboden, ebenso wie eine halbhohe Wandverkleidung... 61.000 Yen (Anm. des Webmasters: etwa 460 Euro) im Monat.
Das zweite war heller, weniger zentral gelegen, und das dritte Apartment war das schönste, aber: am A... der Welt, oder zumindest von Nagoya, 15 Minuten mit dem Rad zur nächsten Subway Station... die dann am Stadtrand liegt... und somit für meinen Drang, freizügig zu sein nicht das Richtige.

Was die Wohnungssuche etwas erschwert ist folgendes: die Uni liegt am Rande von Toyota. Da ich gerne mit öffentlichem Nahverkehr unterwegs bin, ist das kein Problem für mich, aber aus irgendwelchen Gründen ist der Nahverkehr von Nagoya nach Toyota unverschämt teuer, etwas 7,50 Euro für die einfache Fahrt, das heisst, dass ich am Tag etwa 15 Euro nur für die Fahrt zur Uni und zurück ausgeben müsste. Und auch wenn ich nur in den Arbeitsphasen nach Toyota fahre ist das irgendwie abschreckend, besonders (und hier kommt das Hauptproblem:) da ich ja nach meiner Reise sowieso etwas Probleme habe, mich auf einen Ort einzulassen und ich mich ein bischen wie ein Salzwasser-Goldfisch fühle, der in ein neues Becken ausgesetzt werden soll, noch im Plastikbeutel im alten Wasser schwimmt und mit Bangen nach draussen sieht und nicht sicher ist, ob das Wasser draussen das richtige für ihn ist ... Zugzwang und Schwellenangst.

Ja, und dann flüchten meine Gedanken, vielleicht sollte ich einfach meine Reise um die Welt fortsetzen... dieser Gedanke sorgt bei mir immer für bessere Laune, oder und das ist realisitischer: -in Tokyo hatte es mir ja so gut gefallen und vielleicht sollte ich lieber dort wohnen und für intensive Arbeitseinsätze nach Toyota zurückkommen, dann könnte ich auch in dem Gästehaus der Uni auf dem Campus wohnen, für das Geld pro Nacht, das ich sonst für den öNahverkehr ausgeben müsste. Über diese Entscheidungen mache ich mich verrückt und alle Menschen um mich herum auch.

Hier bräuchte ich dringend jemanden, der mich kennt an meiner Seite und der mir den Kopf gelegentlich wäscht, wenn ich mich vergaloppiere. Mein Prof meinte zur Lage, ob ich den berühmten japanischen Dichter Basho kennen würde, klar, und sein Buch 'Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland'... ja, meine ich, wenn ich könnte, würde ich einfach weiterreisen durch Japan (im Hinterland bin ich ja bereits!!!)...auch gerne zu Fuss um die Kosten für den Transport zu umgehen...
Dabei merke ich, dass ich Toyota und Nagoya nicht wirklich kennengelernt habe, und irgendwie draussen, bzw. fast nur in der Uni gewesen bin und weder Nagoya, noch Toyota mit der sonst für mich typischen Neugier erkundet habe; so beschloss ich, meinen Blick und meine Sinne zu schärfen, bzw. wieder in Gang zu setzen und ein persönliches Programm "Toyota und Nagoya lieben lernen" in Angriff zu nehmen.

  21.1.2004 nach oben 
 

Neben meiner ersten Lektion im Kurs Toyota und Nagoya lieben lernen stand heute der Beginn an meinem Video auf dem Plan, wobei ich gut 20mal meinen russischen Lieblings-Liebesschlager anhörte. Ich schnitt und schnipselte 2 Stunden lang an meinem Video und dann fuhr ich nach Toyota, um einen Film abzuholen und später wollte ich in ein Cafe gehen, das mir ein Student empfohlen hatte, da ich quasi Dozenten für meinen Eingewöhnungskurs angeworben habe.

Die Innenstadt Toyotas hat etwas trauriges an sich und ich muss an die Bezeichnung Kassels als einzige ostdeutsche Satdt im Westen denken. Toyota ist eine Komposition der 80er Jahre: Think big and clean and think shopping. Ok. Leider hat sich seitdem nicht viel getan und jetzt macht die Stadt den Eindruck "thought big, still clean, but ugly and shop, please!". Will damit sagen, dass alles ein wenig traurig und übriggeblieben wirkt.

Der nette Student hatte mir einen Plan gezeichnte, wie ich zu seinem Cafe-Favoriten kommen könnte, ich folgte diesem wie einer Schatzkarte und stand in einem Hinterhof. Zögerlich öffnete ich die Türe zu dem Cafe (in das man nicht hineinsehen konnte, was mich in Russland des öfteren von einem Besuch in Kneipen abgehalten hatte) und drinnen verzeichnete ich augenblicklich einen Pluspunkt auf meiner inneren Toyota Liste. Ja, Rafu ist ein Ort, an dem ich heimisch werden kann... dachte ich, und ich wurde es schneller, als gedacht. Mein "Dozent" hatte mich nämlich angekündigt und nicht nur das: Rafu überreichte mir einen kleinen Brief, den mein Dozent für mich hinterlassen hatte - mit Empfehlung, was ich essen und trinken sollte. Für meinen Kaffee durfte ich mir eine Tasse aus der großen Auswahl an allen möglischen alten und neuen Modellen aussuchen und ich wählte eine Porzellantasse mit japanischem Chrysanthemenmuster. Dazu bestellte ich, nach der Empfehlung French Toast (ist "Armer Ritter", aber mit Eis und Erdbeeren).
Der Kaffee wude mit Glas-Siphons zubereitet, das ist das italienische Espressoprinzip der AluKannen, aber eben aus Glas und so sieht man das Wasser über der Gasflamme von einem Glasbehälter nach oben in einen anderen wandern und mit dem Kaffee brodeln... und damit nicht genug, denn auf dem Kaffee wurde dann noch ein Goldblättchen ausgesetzt, das dann auf dem Kaffee schwamm (und das mir dann später eine Weile hinter den amalgamgefüllten Zähnen klebte...).

Rafu mag Nena, und seine Frisur erinnert auch an sie, ...ja, was soll ich da noch schreiben? Ich schrieb einen Brief an meinen Ratgeber, hinterliess ihn in meinem Cafe-Post-Amt und ging beschwingt wieder in die Uni.
Und morgen kann ich auf der Toilette Goldeselchen spielen...

  22.1.2004 nach oben 
 


Chukyo University

James Bond würde sich hier auch heimisch fühlen

Als ich morgens aufstand lag draussen pappiger Schnee, der gerade taute und so beschlossen mein Gastvater und ich zuhause zu bleiben, bis die Strassen frei zum Radeln wären und arbeiteten daheim.

Als wir dann zwei Stunden später losdüsten, schien zwar die Sonne, aber es war lausekalt. Als wir die halbe Strecke hinter uns gebracht hatten, schlug er vor, dass wir unterwegs vielleicht noch einen Kaffee zum Aufwärmen trinken sollten, es gäbe da ein nettes Cafe. Dafür bin ich immer zu haben und bei den steifgefrorenen Fingern war ein Kaffee auch bitter nötig...

Dieses Cafe heisst Woody und wird von der Frau eines Schreiners betrieben, Die gesamte Inneneinrichtung ist aus Vollholzmöbeln hergestellt und neben gutem Kaffee (der auch mit der Siphonmethode gekocht wird) gibt es auch Kunsthandwerk zum betrachten und kaufen, hauptsächlich Holz, aber auch Stoffe, Taschen und Kimonozubehör.
Die Tassen, in denen man den Kaffee serviert bekommt, sind aus Keramik und jede ist ein Einzelstück, von Kunsthandwerkern aus der Umgebung angefertigt. Wir unterhielten uns über Kunst und Handwerk und darüber, dass die Grenzen scheinbar in Japan fließender sind als in Deutschland. Vor allem bei der Betrachtung von Kunstobjekten und handwerklichen Gegenständen. Die Dinge werden einzeln als einzigartig betrachtet, bewundert und geschätzt, Unebenheiten sind individuelle Merkmale. Man redet über diese und jene Tasse, diesen und jenen Stil. Es ist gerade, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre und ich hier mit weit offenen Augen umhergehe... gleichzeitig aber auch umarmt werde vom Leben hier.
Vielleicht sollte ich einen Kaffeeführer für Japan schreiben, denke ich bei mir. Vier beschreibenswerte Cafes konnte ich ja bereits aufstöbern...

Im Cafe Rafu habe ich mich mit dem Besitzer lange unterhalten. Mit 29 Jahren hatte er die Idee zu seinem Cafe und jetzt hat er es seit 5 Jahren. Er ist 1 Jahr älter als ich.

Ja, mit um die 29 hatte ich die Idee zu dieser Reise und jetzt bin ich hier. Die grauen Haare, die ich mir in Venedig noch einzeln auszupfte werden mehr... wie geht es im September weiter? Ich muss lachen, denn noch habe ich hier nicht mal eine eigene Bleibe hier... was treibt einen/mich immer weiter? Wo entstehen Träume und Vorhaben? Wer oder was in einem entscheidet, welcher Weg zu gehen ist? Etwas in einem leitet die Dinge in Wege, oft beinahe unbemerkt, beiläufig. Plötzlich gibt man für sich selbst unerwartete Antworten auf Fragen. Veränderungen keimen unter der Oberfläche. Ich fühle mich in einem ziemlich grundlegenden Häutungszustand; es bleibt abzuwarten, als was ich mich entpuppe. Oder wo.

  27.1.2004 nach oben 
 

Als ich gerade durch die Unikorridore ging traf ich auf Momoko, eine nette Assistentin von Prof. Kohmura und fragte, wo sie denn eben hingehen würde... und sie meinte, dass sie zu einem Seminar von Akio Suzuki gehen würde. Akio Suzuki? - fragte ich, the sound artist? Yes...

Akio Suzuki war vor gut drei Jahren an die Kasseler Kunsthochschule gekommen und hatte dort eine Sound Performance abgehalten. Ich hatte damals gerade begonnen, Japanisch zu lernen und wir hatten kurz geplaudert und ich hatte damals gesagt, dass es mein großer Wunsch sei, einmal nach Japan zu gehen...

Ich begleitete Momoko zum Workshop und unterhielt mich danach mit Akio Suzuki, einem sehr feinsinnigen, älteren Künstler, den eine bestimmte Aura der Ruhe umgibt. Manchmal kommt einem die Kunstwelt wie eine Familie vor.

  29.1.2004 nach oben 
 

Professor Kohmura hatte mich ja ermutigt, mehr als nur meinen Sonntagssprachkurs in Nagoya zu machen und gemeinsam hatten wir eine Dame an der Uni besucht, die Sprachunterricht gibt oder Sprache unterrichten unterrichtet, so genau hatte ich das nicht verstanden... jedenfalls meinte sie, sie könne für mich eine Lehrerin organisieren und ob ich lieber eine jüngere Lehrerin hätte, sie würde eine junge Frau kennen, die Lehrerin werden möchte... oder eine ältere Dame. Ok, ich meinte, ich würde es gerne mit der angehenden Sprachlehrerin versuchen.

Es wurde ein Termin für ein Treffen vereinbahrt und dann noch mal verschoben. Ich traf dann nicht die angehende Lehrerin, sondern eine ältere Dame, die in den 70er Jahren mal in Karlsruhe studiert hatte, etwas Englisch und etwas Deutsch sprach und die sehr symphatisch war. Sie wollte mir als volunteer-Freiwillige, im deutschen würde man vielleicht Ehrenamtliche sagen und somit unentgeltlich ihre Sprache beibringen.

Na, ich war beeindruckt und dachte, schaun wir mal... heute war dann die erste Unterrichtseinheit, wir hatten uns für zwei Stunden verabredet. Meine Lehrerin kam etwas zu spät und dann gings los. Ihr Engagement kennt keine Grenzen und auch ihre Ausdauer. Ganz im Gegenteil zu meinem Vermögen, mich aufs Japanische zu konzentrieren. Meine vorsichtigen Versuche, nach zwei Stunden aufzuhören wurden übergangen und am Schluß waren wir drei Stunden über den Büchern gesessen, wobei sie mir die Vokabeln zuallererst als Kanjis aufschrieb, also als die äußerst komplizierten chinesischen Schriftzeichen, von denen ich etwa 15 Stück schreiben und vielleicht 25 lesen kann. Sie redete wie ein Wasserfalls und mir rauchte der Kopf; als ich dann nach meiner Radtour bei meiner Gastfamilie ankam, war ich fix und fertig. Wenn ich aus Tokyo wiederkomme, werden wir uns 2 mal in der Woche treffen, sie hatte darauf bestanden und meinte noch, dass sie mit der Japanischlehrerin gesprochen hätt, die uns vermittelt hatte und diese hätte gemeint, dass ich Japanisch sprechen könne, wenn wir das erste und das zweite Japanischbuch durchgearbeitet hätten... ogott, dachte ich, so ehrgeizig bin ich gar nicht. Vor allem müsste ich dazu mehr Zeit auf die Sprache als auf meine anderen Arbeiten verwenden.

Uff, da kommt noch was auf mich zu... auf jeden Fall muss ich mir noch 'dringende' Termine nach meinen Sprachkurs legen, dass ich nicht völlig verheizt werde mit Japanisch. Lost in Language.

  30.1.2004 nach oben 
 


Kotatsu

Die 'Kotatsu' ist das Herzstück des japanischen Hauses: ein niedriger Tisch mit Heitzung. Unter der Tischplatte ist eine dicke, gesteppte Decke positioniert, die an allen vier Seiten bis auf den Boden reicht. Da die japanischen Häuser in der Regel schlecht beheizt sind, schart sich die ganze Familie um die Kotetsu, mal sitzend, mal eher in liegender Position wird an und unter der Kotetsu ferngesehen, gearbeitet, Hausaufgaben gemacht.

   
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  ©2004 Steffi Jüngling